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Ich sehe da ist ganz viel grün!
Warum zu viel Lob die Kreativität unserer Kinder hemmt und wie wir die Werke unserer Kinder dennoch authentisch kommentieren können.
„Oh, was für ein schönes Bild!“, freue ich mich mit meiner vierjährigen Tochter, die mit einem bunten Blatt Papier vor mir steht, und setze gleich nach „Ist das eine Giraffe?“. An ihrem Gesichtsausdruck sehe ich sogleich: nein, ist es nicht. „Das siehst du doch, das ist eine Schatzkarte!“
Diese oder eine ähnliche Situation haben wir vermutlich alle schon einmal erlebt, mit unseren Kindern, Nichten und Neffen, Enkelkindern usw. Oftmals geht von den Kindern schon eine große Erwartungshaltung aus, die nicht selten in Enttäuschung mündet, wenn das Gemalte falsch interpretiert wird.
Genau hier setzen einige Expertinnen und Experten an und behaupten: Kinder brauchen keine Bewertung und kein Lob, Kinder wollen gesehen werden. Der Familientherapeut Jesper Juul geht sogar noch einen Schritt weiter und behauptet, Lob sei die postmoderne Version von Bestrafung.
Lob macht abhängig
Lob kann zwar das Selbstbewusstsein stärken, wird es aber zu oft und zu automatisiert eingesetzt, kann es ebenso Unsicherheiten erzeugen. Ein „Gut gemacht“ kann auch unter Druck setzen, denn es schafft die Erwartungshaltung, dass es beim nächsten Mal genauso klappt.
Was gut gemeint ist, schadet dem kreativen Prozess, meinen auch Kunstpädagoginnen und Kunstpädagogen. Kinder malen aus einer intrinsischen Motivation heraus. Sie experimentieren mit Farben, spielen mit Materialien und erforschen Formen, kurz: sie haben Spaß am Malen. Eine Belohnung in Form von Lob rückt dabei die ursprüngliche Motivation in den Hintergrund. Der Fokus liegt dann nicht mehr auf dem kreativen Prozess, sondern auf dem Ergebnis, der fertigen Zeichnung. Statt also jedes Mal etwas Neues auszuprobieren, malt meine Tochter vielleicht immer wieder einen Regenbogen, weil sie weiß, dass andere das gut finden – „Das hast du toll gemalt!“. Die Kreativität wird überlagert von dem Wunsch nach Anerkennung.
Lasst die Kinder frei malen!
Der Kunstpädagoge und Forscher Arno Stern untersuchte über 50 Jahre lang Kinderzeichnungen und schuf in den 1950er Jahren mit dem Malort einen geschützten Raum, in dem Kinder frei von Bewertung malen und kreativ sein können. Sein Credo: Lasst die Kinder frei malen! Ohne Vorgaben und definiertem Ziel, ohne Deutungen, (gut gemeintem) Lob oder destruktiver Bewertung. Das, was dabei entsteht, wird weder ausgestellt noch mit nach Hause genommen. Beim sogenannten Malspiel entstehen Werke, die für keine/n Empfänger:in bestimmt sind, sondern aus dem ureigenen Bedürfnis des Menschen entstehen, schöpferisch tätig zu sein.
„Ich sehe dich, ich sehe, was du gemacht hast.“
Wie so oft führt der Weg wohl über eine ehrliche Aufmerksamkeit, das Zeigen von Interesse: Ich sehe dich. Ich sehe, was du gemacht hast. Ob das nun ausformuliert oder nonverbal (durch ein Lächeln) gezeigt wird.
Eine Möglichkeit, Rückmeldung zu geben, ist über den Prozess zu sprechen: „Wie ist es dir beim Malen ergangen? Hat es dir Spaß gemacht?“. Oder – eine für mich sehr praktikable Art – zu beschreiben, was man sieht: „Ich sehe, da ist ganz viel grün“. Und schon übernimmt meine Tochter das Gespräch: „Und hier – siehst du – habe ich rosa verwendet, viele kleine Kreise gemalt und da drüben noch dicke schwarze Striche…“
Diese Art von Rückmeldungen können zu Beginn sehr gewöhnungsbedürftig sein und man fragt sich: Wo bleibt die Authentizität? Oft sind es die kleinen Nuancen, die den Unterschied machen. Wie wärs mit einem freudigen „Das hast du jetzt geschafft!“ statt einem wertenden „Das hast du super gemacht!“?
Der Vorteil am freien Malen ist: man kann nichts falsch machen. Und mit dem Vertrauen des Kindes, dass das so ist, entstehen immer wieder neue Werke. Und für mich immer wieder neue Möglichkeiten, "Ich sehe dich, ich sehe, was du gemacht hast“ zu zeigen. Oder auch zu erkennen „…da ist ganz viel grün.“