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Viola Rosa Semper, 6.9.2023

Kinder erzählen lassen und damit ihre Phantasie anregen.

Geschichten gemeinsam erfinden - Spielanleitung

Geschichten hören ist herrlich. Geschichten selbst ausdenken noch viel mehr! Gemeinsam erfinden, ausprobieren und aufführen – eine Spielanleitung

Erzählen fördert die Sprach- und Merkfähigkeit, die Fantasie, die Empathie und die sozialen Kompetenzen: egal ob bei Kleinkindern, Teenagern oder Erwachsenen. Vor allem, wenn in der Gruppe erzählt wird, entsteht ein gemeinsames Erlebnis, eine Reise in eine andere Welt, die zusammenschweißt. Geschichten belustigen, trösten, lassen einen Schauer über den Rücken laufen, helfen beim Einschlafen und inspirieren zu eigenen Ideen.

Eine Studie der Universität Chicago hat festgestellt, dass der Wortschatz von Kindern, denen vorgelesen wird, bereits im Alter von 20 Monaten um 131 Wörter größer ist, als von Kindern, die ohne Geschichten aufwachsen. Mit zwei Jahren liegt die Differenz bei 300 Wörtern. Damit ist erwiesen, dass Erzählungen für das Erlernen von Ausdrücken und Satzmustern förderlich sind und den Horizont der Zuhörenden erweitern.

Durch das Erzählen eigener Geschichten erproben die Heranwachsenden diese neuen Fertigkeiten und das Lernen geht weiter. Über Rollenspiele und Fantasiegeschichten prägt sich die Fähigkeit der Empathie aus und festigt sich. Mit Geschichten erklären sich die Kinder ihre Welt. Es ist eine Form des Spielens, eine Möglichkeit, der Kreativität freien Lauf zu lassen und andere mit auf ihre Abenteuer zu nehmen. Es braucht nur jemanden, der bereit ist, sich darauf einzulassen, die Segel zu hissen und mit ihnen in die weite See der Geschichten zu stechen.

"Erzähl' mal"

Die Kreativität ankurbeln

Um Kinder zu motivieren, eine Geschichte zu erzählen, können W-Fragen herangezogen werden. Ein möglicher Einstieg ist: „Wir befinden uns mitten im Abenteuer. Wo sind wir?“ Auf jede Antwort folgt eine neue Frage: Wer ist mit dabei? Was erleben wir hier? Warum spielen wir das? Welche Spielzeuge/Werkzeuge/Kuscheltiere ... haben wir mit auf unseren Ausflug genommen?

Wichtig ist, dass den Kindern nicht widersprochen wird. Es gibt keine falschen Ideen, alle Vorschläge werden angenommen. Die angehenden Märchenerzähler:innen dürfen ihrer Fantasie freien Lauf lassen. Befinden wir uns in einem Raumschiff, dann befinden wir uns in einem Raumschiff. Ist es ein U-Boot, darf es ein U-Boot sein. Am besten ist es – im Sinne des improvisierten Theaters –, niemals eine ablehnende Haltung einzunehmen, sondern immer wieder kleine Details zu ergänzen, indem die Phrase Ja! Und ... benutzt wird. Es folgt eine weitere W-Frage. So könnte zum Beispiel eine Geschichte entstehen:

Einstieg der Eltern beim gemeinsamen Spielen: „Heute spazieren wir durch eine fremde Stadt. Wohin gehen wir?“

Idee des Kindes: „Wir gehen ... in den Zirkus!“

Ja! Und die Vorstellung beginnt bald. Was wird wohl die erste Zirkusnummer sein?“

Wer selbst ein klein wenig Hilfe benötigt, um Antworten oder Ergänzungen zu finden, kann vorab Kärtchen mit möglichen Orten, Figuren, Tieren und Tätigkeiten basteln und für die Ergänzungen eine Karte ziehen. Wurden etwa die Worte Hase und kochen gezogen, so könnte auf „Wir gehen in den Zirkus“ mit „Ja! Und ein Hase möchte für alle Zirkus-Akrobaten das Mittagessen kochen“ geantwortet werden, gefolgt von einer W-Frage für die Kinder: „Was kocht der Hase?“.

Einmal ausprobiert, ist rasch zu sehen, dass Geschichten die Tendenz haben, eine eigene Dynamik zu entwickeln. Damit die Erzählungen nicht aus dem Ruder laufen, ist es hilfreich, ein Ende parat zu haben. Das klappt am leichtesten, indem auf den Ursprung zurückgegriffen wird. Selbst wenn die Tochter schon lange von den Clowns, die auf Pferden durch die Manege reiten und in den Sägespänen Räder schlagen, erzählt, ist es den Eltern erlaubt, zum Hasen und dem Mittagessen zurückzukehren: „Ja! Und in der Zwischenzeit hat der Hase das Mittagessen fertiggekocht. Alle Zirkusleute kommen zum Essen zusammen.“ Oder der Sohn schwärmt von dem Schlangenbeschwörer, der die gefährlichen Giftschlangen mit seiner Flöte verzaubert. „Ja! Und das ist die letzte Vorstellung. Dann muss das Publikum nach Hause gehen.“ So findet die Geschichte ein zufriedenstellendes Ende.

Die Logik darf dabei außer Acht gelassen werden. Egal, ob sich im Spieleifer das Zirkuszelt in eine Bühne verwandelt hat oder der Hase in eine Maus. Im Vordergrund stehen die Kreativität und die Freude am Erzählen.

Ab ins Rampenlicht

Ist die Geschichte zu Ende erzählt, könnte sie – wenn es nach den jungen Geschichtenerzähler:innen geht – gleich wieder beginnen: „Noch einmal in den Zirkus! Kann die nächste Vorstellung losgehen?“. Durch die Wiederholung entsteht automatisch eine Art Schauspiel, die Rollen werden gefestigt. „Jetzt bist du das Pferd und ich der Clown!“. Kinder und Eltern verwandeln sich in die erzählten Figuren.

Eine Aufführung der Geschichte stärkt das Selbstbewusstsein, gibt das Gefühl, etwas ‚geschafft‘ oder sogar ‚gemeistert‘ zu haben, und hilft dabei, das gemeinsame Spielen zu einem Ende kommen zu lassen. Natürlich müssen nicht gleich die Großeltern, Tanten und Onkel das Wohnzimmer füllen, aber die Stofftiere, Spielzeugautos und Puppen dürfen stellvertretend die Plätze im Publikum einnehmen. Beim Auftritt auf der Bühne wird das Abenteuer gezeigt: Wie kocht der Hase das Mittagessen? Wie schlängelt sich die Schlange zur Flötenmusik des Schlangenbeschwörers? Wie reitet der Clown am Rücken der Pferde? Rollen werden zwischendurch gewechselt, sind vielleicht mehrfach besetzt oder bleiben für das Publikum unsichtbar. Es geht nicht darum, ein perfekt einstudiertes Theaterstück auf die Bühne zu bringen.

Das Nacherzählen und Darstellen der Geschichte ist ein Spiel für sich, kann beliebig oft wiederholt werden und fördert den Ausdruck. Erst, wenn sich die Kuscheltiere im Publikum nicht mehr halten können vor Applaus, ist die Aufführung zu Ende. Einem so begeisterten Beifall muss auch Respekt gezollt werden. Das abschließende Verbeugen ist wichtig, um sich bei der Zuseherschaft für die Aufmerksamkeit zu bedanken. Es ist ein gemeinsamer Abschluss, der das Spiel eindeutig beendet ... Solange der Lieblingsteddy nicht immer weiter „Zugabe!“ ruft.

Viola Rosa Semper studierte Meteorologie an der Universität Wien. Nach dem Studium wandte sie sich vollständig der Literatur und der deutschen Sprache zu. Seit 2017 arbeitet sie als freie Autorin, Texterin, Lektorin und Tutorin für Deutsch als Fremdsprache. Sie leitet unter anderem die Schreibwerkstatt für Kinder und Jugendliche in St.Pölten.

https://viola.semper.at/