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Anja-Maria Hakim, 14.3.2023

Instrumentalunterricht ohne Noten?!

Spiel nach Gehör! Warum eigentlich nicht?

Musizieren lehren und lernen ohne Noten! Spiel nach Gehör! Warum eigentlich nicht? Immerhin belegen Forschungen, dass Instru­mentalistinnen und Instrumentalisten durch ein Training im Spiel nach Gehör mehr Freude im Instrumentalunterricht erleben, ihr Gehör und improvisa­torische Fertigkeiten entwickeln und mehr Sicherheit auf dem Instrument erlangen.

Gekürzter Text der Kulturwissenschaftlerin Anja-Maria Hakim. Die vollständige Version: Zuerst erschienen in üben & musizieren 6/2022. © 2022, Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.

Musizierenlernen nach Gehör

Genau genommen ist das Musizieren nach Noten eine abendländische Sonderentwick­lung im Kontext der Klassik. Blickt man dage­gen auf die Vielzahl der Musikkulturen welt­weit, so dominieren hörbasierte (= aurale) und mündliche (= orale) gegenüber schriftli­chen Vermittlungstraditionen,[1] sei es beim Erlernen indischer Kunstmusik, bei afrikani­schen Meistertrommlern aus Ghana, den Samba-Gruppen in Rio de Janeiro, dem Grup­penmusizieren im indonesischen Gamelan oder den lockeren Sessions traditionell iri­scher MusikerInnen. In all diesen Fällen wer­den die Lernenden zu variationsreichem und improvisationsfreudigem Musizieren in ganz bestimmten musikalischen Stiltraditionen angeregt. Dies geschieht weniger durch verbale Anweisungen oder schriftliche Vorgaben als vielmehr durch langfristige Prozesse des Hö­rens, Nachmachens und Variierens von Figuren und Regeln. Nicht zuletzt angeregt durch die Popularmusik, den Jazz und die Weltmusik zeichnen sich in den vergangenen zwanzig Jahren zunehmend Initiativen auch im Rah­men der formalen, „klassischen“ Musikaus­bildung ab, welche die Entwicklung auditiver Fähigkeiten stärker fokussieren und dement­sprechende Spielweisen in den Unterricht in­tegrieren.

 


[1]vgl. die Unterscheidung von oralen, auralen und visu­ellen Formen der Musikvermittlung bei Grupe, Gerd: „Ohne Noten kann ich nicht spielen! Über Lehren und Lernen nicht-westlicher Musik“, in: Lüderwaldt, Andreas (Hg.): Contemporary Gamelan Music. 3. Internationales Gamelan Musik Festival Bremen 2006. 25 Jahre Arum Sih, Bremen 2007, S. 79-90, hier: S. 81.  

Akustisches Modell-Lernen

Komplexe Fähigkeiten wie Laufen, Sprechen und Singen können Kinder nur durch Nach­ahmung erlernen. Auch Spiel nach Gehör ist eine Form des Nachahmungslernens, genau­er: ein akustisches Modell-Lernen, und be­deutet, dass eine unbekannte erklingende Musik hörbasiert, ohne Hilfe von Notation auf einem Instrument ausgeführt wird.[2]

Häufiges Spiel nach Gehör trainiert die Ohr- Hand-Koordination und befähigt Musizieren­de, musikalische Ideen direkt umzusetzen, ohne über die passenden Fingersätze nach­denken zu müssen oder Griffe am Instrument zu suchen. Durch Spiel nach Gehör lernen Instrumentalschülerinnen und Schüler, musikalische Klänge direkt in geeignete sensomotorische Bewe­gungsabläufe am Instrument zu überführen. Dabei erwerben sie ein überwiegend implizi­tes Körperwissen, ihr musikalisches Empfin­den wird mit dem Körpergedächtnis verknüpft.


[2] vgl. Hakim, Anja-Maria/Bullerjahn, Claudia: „Spiel nach Gehör auf der Violine. Wie beeinflusst musikalische Vorerfahrung die Imitation kulturell vertrauter und fremder Melodiemuster?“, in: Musikpsychologie, Jg. 28, 2019, S. 213-251, hier: S. 215-217.

Bildung einer Klangvorstellung

Die Voraussetzung für ausdrucksvolles Musi­zieren ist, dass eine innere Klangvorstellung existiert, das heißt eine präzise Idee, wie et­was klingen soll. Beim Spiel nach Gehör bil­det sich die Klangvorstellung rein aus auditi­ven Informationen des Arbeitsgedächtnisses, dagegen wird sie beim Blattspiel visuell er­zeugt. Das Auswendigspiel wiederum beruht auf auditiven Informationen des Langzeit­gedächtnisses, die jedoch unterschiedlich ge­bildet werden können: Im „klassischen“ Sek­tor wird in der Regel zuerst nach Noten ge­spielt und danach auswendig gelernt. Nach der Suzuki-Methode wird dagegen ein Stück zuerst so oft angehört, bis es aus der Erinne­rung ohne Noten nachgespielt werden kann. Speziell bei letzterem Lernweg leitet der Klang die musikalische Umsetzung am Instrument. Durch vermehrtes Spiel nach Gehör kann die aus­drucksvolle musikalische Gestaltung von An­fang an Hauptbestandteil des Instrumental­unterrichts sein.

Diese Zusammenhänge verdeutlichen, wie wichtig es ist, dass sich beim Musizierenler­nen eine verinnerlichte musikalische Klangvorstel­lung bilden kann: Bevor abstrakte Konzepte wie Notenzeichen, Intervallbeziehungen oder kadenzierende Schlussfolgen eingeführt werden, sollten die spezifischen musikalischen Klänge durch vielfältige Hör- und Spielerfah­rungen vertraut sein. Gerade bei Heranwachsenden ist es wichtig, dass vor einer begrifflich-formalen Repräsentation immer zuerst ein erfahrungs­bezogenes Lernen stattgefunden hat. Beson­ders Anfängerinnen und Anfänger werden im Instrumental­unterricht durch eine notenbasierte Vermitt­lung dazu verleitet, diesen grundlegenden Lernschritt zu übergehen. Das Lernen mittels Notation scheint zwar an­fangs schneller zu gehen, führt jedoch zu ei­ner gewissen Einseitigkeit durch die Ausrich­tung auf reproduktive Musizierformen und zu Einschränkungen in der spontanen Sprach- und Variationsfähigkeit am Instrument. Das Lernen nach Gehör geht zunächst langsamer voran, ist dafür aber nachhaltiger und eröff­net eine größere Vielfalt an Musizierformen.[3]

 


[3] Kulturvergleichende Untersuchungen deuten an, dass eine gut ausgebildete Klangvorstellung auch das Spiel nach Gehör von Melodien aus weniger vertrauten Mu­sikstilen unterstützt (vgl. Hakim/Bullerjahn, S. 243).

Angewandte Gehörbildung

Das Spielen nach Gehör kommt auch den Prinzipien der Wahrnehmung entgegen, denn musikalische Klänge werden nicht als isolier­te Noten, sondern als sinnvolle Bedeutungs­einheiten wahrgenommen. Das Musizieren ohne Noten trainiert auch das musikalische Gedächtnis. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass zahlreiche mündliche Musiktraditionen das Auswendig­lernen und Musizieren mit sprachlichen Merk­hilfen, den Mnemotechniken, kombinieren. Die Trommelsprachen der nordindischen oder schwarzafrikanischen Musikkulturen bei­spielsweise unterstützen das Spielen nach Gehör, indem sie die gewünschte Klangerzeugung lautmalerisch nachahmen und strukturieren. Aber auch andere sprachliche Systematisierungen und sogenannte kogni­tive Konzepte wie Solmisation, Tonbezeich­nungen oder Harmonielehre sind wichtige explizite Ergänzungen für das intuitive Hör- bzw. Spielerlebnis. Verstehen Musizierende harmonische Verläufe, so fällt es ihnen leich­ter, Akkorde nach Gehör zu spielen.[4] Gerade die Verbindung von implizitem und explizi­tem Lernen fördert ein nachhaltiges Erinnern und spontanes Anwenden, wie es beim Im­provisieren – z. B. im Jazz – benötigt wird.

 


[4] Woody, Robert H.: „Musicians’ use of harmonic cog­nitive strategies when playing by ear“, in: Psychology of Music, Bd. 48, 2020, Heft 5, S. 674-692.

Fazit

Instrumentalunterricht, der in der Tradition der abendländischen Klassik steht, profitiert von einem Blick auf kulturelle Praktiken, in denen das Spiel nach Gehör fest verankert ist. Dazu gehört, dass man ein im Radio oder Internet erklingendes Lied auf dem Instru­ment nachspielen kann, zu einem bekannten Stück eigene Variationen entwickeln oder mit anderen MusikerInnen spontan jammen kann. Kulturelle Praktiken des Nach-Gehör-Spielens können den Habitus eines autono­men und kreativen Musizierens entwickeln und damit die Spielfreude langfristig fördern. Sie bilden auch eine solide Grundlage für ei­nen selbstbestimmten künstlerischen Schaf­fensprozess.

Anja-Maria Hakim studierte Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis. Sie forscht an der Justus-Liebig-Universität Gießen kulturvergleichend zum Spiel nach Gehör sowie zur kulturellen Bildung und sozialen Teilhabe mit Musik.